4.48 PSYCHOSE

Landestheater Coburg

2018

Neue Presse

Ein packender Slalom der Emotionen in der Coburger Reithalle: Sarah Kanes Stück "Psychose 4.48" lässt uns spüren, worum die depressive Seele ringt.


DIETER UNGELENK

Coburg - "Etwas Schönes über Verzweiflung zu schreiben … ist für mich das hoffnungsvollste, lebensbejahendste, was man tun kann". Der Satz könnte anmaßend wirken, stammte er nicht von einer Frau, die wusste, was Verzweiflung ist: Die britische Dramatikerin Sarah Kane litt an schweren Depressionen, denen sie 1999 ein Ende setzte. Sie wurde 28 Jahre alt.

In "Psychose 4.48" schildert sie kurz vor ihrem Tod das Leiden am Leben, den Kampf gegen sich selbst. Auch das Bemühen der hilflosen Helfer, der Freunde und Ärzte, die ihr das Unbegreifliche auszutreiben versuchen, mit professioneller Distanz oder menschlicher Zuwendung, mit aufmunternden Worten, mit Standpauke und mit Psychopharmaka. Was oft abschätzig als "therapeutisches Schreiben" bezeichnet wird, hebt die sprachsensible Autorin auf höchstes Niveau: Ihre Textur aus Gedankensplittern, biografischen Fragmenten, Reflektionen, Monologen, Dialogen, Litaneien ist ein gewaltiges Poem.
Ein Drama im konventionellen Sinne ist es nicht, es gibt weder Rollen noch einen Handlungsverlauf, und doch drängt Sarah Kanes letztes Stück auf die Bühne. Daraus "etwas Schönes über die Verzweiflung" zu gestalten, die Kraft ihrer (von Durs Grünbein ins Deutsche übertragenen) Worte in Szene zu setzen, ohne sie ästhetisierend zu beschädigen, ist eine Herausforderung für jeden Regisseur.
Axel Sichrovsky, der vor zwei Jahren schon Elfriede Jelineks Textmassiv "Wut" für die Coburger Reithalle bezwungen hat, ist auch dieses Mal ein sinnlich und inhaltlich intensiver Theaterabend gelungen, ein fesselndes multimediales Gesamtkunstwerk, das uns in einen Gefühlskosmos hineinzieht, in dem nicht nur Düsternis herrscht: Da ist sehr viel Klarheit um 4 Uhr 48, in diesem einzigen "Moment des Einklangs" mit sich selbst, vor dem nächsten Pillencocktail, der Sarahs Geist lähmt.
In diesem Zustand des Bei-Sich-Seins brechen die Gefühle hervor - und schlimmer noch: die verlorenen Gefühle, die ein unerträgliches Vakuum hinterlassen haben, für das Kane eine prägnante Formel gefunden hat: "Der Lebenswunsch, für den es sich zu sterben lohnt". Er äußert sich in Trauer, Lebensverdruss, Wut, Selbsthass, auch in schwarzem Humor.
Nicht nur diesen Slalom der Emotionen meistern die drei Darsteller mit Bravour: Eva Marianne Berger, Valentin Kleinschmidt und Solveig Schomers springen zwischen den Sphären, den Tonarten, den Wahrnehmungen, sie wechseln permanent die Perspektive, sind Patientin, Therapeut, Freund in dieser kunstvoll komponierten 90-Minuten-Collage.
Leer wie eine Klinik-Zelle oder ein sediertes Gemüt ist der Bühnenraum, den Katrin Wittig mit einer Badewanne und ein paar Ring-Segmenten ausgestattet hat. Vor der gekachelten Wand hängen weiße Planen, die als Projektionsfläche dienen für die Metaphern, die die Zeichnerin Karin Ellmer mit Tusche und Stift live skizziert: den Zackenschmerz, die bizarren Alptraum-Figuren.
Die Kakerlake aus Sarahs surrealen Visionen holt die Inszenierung leibhaftig auf die Bühne: Im Kostüm steckt der Geiger Gustavo Strauß, der mit seiner Violine und der Loop-Station (die ihm ermöglicht, mehrspurig live zu musizieren) mehr als nur Untermalung beiträgt. Sein atmosphärischer Soundtrack bildet eine zusätzliche Erzählebene, von der Geräusch-Collage über die Kakophonie des Wahnsinns bis zum melodischen Largo.
Auch Videotechnik nutzt Sichrovsky auf sinnige Weise, um die psychotische Selbstwahrnehmung und Selbstentfremdung zu veranschaulichen: Solvejg Schomers synchronisiert ihre beiden Bühnenpartner, während die Projektionen ihrer Gesuchter zu einem Zerrbild verschmelzen. Auch Heiterkeit hat ihren Platz in dieser eindringlichen Inszenierung: Einfach nur lächerlich und absurd wirkt die hysterischen Anfeuerungen zum positiven Denken. Und mit einer sarkastischen "Enstpannungsübung" fürs ganze Publikum lässt uns Sichrovsky spüren, wie die negative Selbstsuggestion eine depressive Seele zersetzt.
Lösungen kann dieses Stück nicht aufzeigen, es kann nur Verständnis und Empathie wecken und begreiflich machen, was Sarah am wenigsten hilft: das Netz der Vernunft, das am Ende die ganze Bühne umspannt und aus dem es nur eine Befreiung gibt - den Notausgang.

Coburger Tageblatt

Sarah Kanes "Psychose": Sanft dem Wahn entfliehen


Wie Gastregisseur Axel Sichrovsky die Coburger Erstaufführung von Sarah Kanes Schauspiel
"4.48 Psychose" zum berührenden Erlebnis werden lässt.


JOCHEN BERGER

Ausweglos. Alles ausweglos. Aus diesem Leben gibt es kein Entrinnen. Höchstens Momente, in denen die Illusion aufleuchtet, es gäbe vielleicht doch so etwas wie Glück. Doch die Illusion - sie vergeht nur allzu rasch. Und zurück bleibt: ein Mensch, gefangen in eingebildeten und realen Mauern, ruhig gestellt von Medikamenten.

Erschütternd und irritierend

Erschütternd, irritierend und doch packend - so schildert Sarah Kane in ihrem letzten Stück "4.48 Psychose" die Leiden eines psychisch kranken Menschen. Und erschütternd, irritierend und doch packend bringt Gastregisseur Axel Sichrovsky den postum uraufgeführten Text Sarah Kanes auf die Bühne der Coburger Reithalle.

Beklemmende Wirkung

Die ebenso gefeierte wie umstrittene Autorin, die immer wieder von depressiven Schüben heimgesucht wurde und 1999 Selbstmord beging, gewährt in dem stark autobiografisch geprägten Schauspiel einen Blick in die Innenwelt eines psychisch kranken Menschen.
Katrin Wittig hat dazu eine beklemmend stimmige Ausstattung geschaffen - einen wandelbaren Raum, der zum unentrinnbaren Gefängnis wird. Und Kostüme, die ironisch verfremdend wirken und doch auch zart poetische Akzente setzen.

Darsteller-Trio

Axel Sichrovsky verteilt den sperrigen Text auf ein Schauspieler-Trio, das in dieser ausweglosen Bühnenwelt um Flucht und Überleben kämpft. Flucht vor den eigenen Wahnvorstellungen. Sarah Kanes "4.48 Psychose" gestattet einen erschreckenden Blick in ein Zeitfenster - jene Zeitspanne von einer Stunde und zwölf Minuten , die zwischen zwei Medikamentenausgaben vergeht. Und ähnlich lang dauert die ohne Pause gespielte Aufführung.

Wahn und Wirklichkeit

Eva Marianne Berger, Solvejg Schomers und Valentin Kleinschmidt spielen diesen Ausbruchsversuch aus einer Welt zwischen Wahn und Wirklichkeit mit rückhaltlosem Einsatz und beklemmender Intensität.
Axel Sichrovskys Regie hütet sich zum Glück vor jeder naturalistischen Direktheit. Vielmehr bricht die Regie die bedrückende Kälte des beinahe leeren klinischen Raumes immer wieder auf, setzt auf fast slapstickartige Zuspitzung. Vor allem aber findet er überraschend poetische Bilder in einer Welt voller Todesangst und Todessehnsucht.

Live-Zeichnerin

Karin Ellmer zeichnet zum Spiel auf der Bühne Wogen und Wellen, Strichmännchen und Fratzen, die live auf Plastikbahnen am Bühnenhintergrund projiziert werden. Sie malt eine Sternenkrone, die je nach Blickwinkel auch als Dornenkrone erscheinen kann.

Anklänge an Arvo Pärt

Gustavo Strauß schafft mit seiner Geige und einer raffiniert eingesetzten Loop-Station zerrissene Welten. Scharfe, kratzende, schürfende Töne werden von ruhigen, schwebenden Tönen im Arvo-Pärt-Stil vertrieben, kehren zurück und müssen am Ende doch den sanften Klängen weichen, mit denen die Darsteller schließlich den Weg aus dem Labyrinth der Irrungen hinaus in die verregnete Nacht finden. Ein Happyend? Pure Illusion? Der Premierenbeifall ist ungetrübt heftig.

Axel Sichrovsky
axel.sichrovsky@gmail.com