Der Kick

Nordharzer Städtebundtheater
Anhaltisches Theater Dessau

2008
2009

Der Spiegel

 

Monster mit Biografien

Nahaufnahme: Das Theater in Halberstadt, vergangenes Jahr Opfer einer Schlägerattacke, führt die Gewaltstudie »Der Kick« auf.

PHILIPP OEHMKE

Zwei Stunden bevor das Theaterstück »Der Kick« in Halberstadt seine Premiere feiern wird, steht der Tänzer Timo im Foyer des Theaters und sagt, er traue sich nachts immer noch nicht wieder auf die Straße. Er sagt auch, dass er immer noch in psychiatrischer Behandlung sei, dass er weiterhin unter Traumata leide und es nur sehr langsam besser werde. Es ist Donnerstagabend vergangener Woche.

Timo, birkenstockartige Sandalen, etwas längere Haare, 22 Jahre alt, gehört zu jener inzwischen traurig berühmten Schauspielergruppe des Nordharzer Städtebundtheaters, die im Juni des vergangenen Jahres nach ihrer Premiere der »Rocky Horror Show« von offenbar rechtsradikalen jugendlichen Schlägern krankenhausreif geprügelt wurde. Das war gleich hier um die Ecke, nachts um drei, vor der Musikkneipe »Spucknapf«. Da steht jetzt ein Granitstein, zum Gedenken. Timo wird sich die Premiere von »Der Kick«, die seine Kollegen gleich aufführen, nicht ansehen.
»Ich habe Probe für ein anderes Stück«, sagt er, aber es ist ihm anzumerken, dass er darüber nicht so unglücklich ist. Denn »Der Kick« erzählt auf so eindrückliche wie unerträgliche Weise von vielem, was Timo aus seinem Kopf kriegen will. Es geht um unfassbare Gewalt, ihre Entstehungsbedingungen, um Spracharmut, Demütigungen und das Wegsehen der Umstehenden.

Das Stück untersucht die Ermordung des 16-jährigen Marinus Schöberl, die im Jahr 2002 Entsetzen in Deutschland auslöste. Die Brüder Marco und Marcel Schönfeld, damals 23 und 17 Jahre alt, sowie ein weiterer Kumpel hatten Marinus in Potzlow, einem Dorf in der Uckermark, eine Nacht lang geschlagen, ausgezogen, bepinkelt, wieder geschlagen und dabei, wie fast jeden Abend, gesoffen. Am Ende der Nacht zwang der 17-jährige Marcel das Opfer, auf den Rand eines Futtertrogs zu beißen, dann sprang er ihm, die Springerstiefel voran, auf den Schädel. Marinus stirbt, die drei Täter vergraben ihn in einer Jauchegrube. Über ein halbes Jahr wird seine Leiche nicht gefunden.
 
Danach werden die Täter in der Öffentlichkeit als »Monster« gebrandmarkt , und Andres Veiel, berühmt durch Dokumentarfilme wie »Black Box BRD«, reist für Monate nach Potzlow. Zusammen mit seiner Co-Autorin Gesine Schmidt spricht er mit Eltern, Freunden und auch mit den Tätern selbst. Alle Aussagen sowie Verhörprotokolle und Trauerreden montiert er zu einem Theaterstück, an dessen Ende die Täter zwar immer noch Monster sind, aber eben auch bemitleidenswerte arme Schweine, die plötzlich eine Biografie haben. Und ein prallvolles »Zornkonto« (Peter Sloterdijk), auf das alle einzahlen, von dem aber nur die Jugendlichen abheben.
 
Dass dieses Stück nun knapp drei Jahre nach seiner Uraufführung in Berlin von einem Theater auf die Bühne gebracht wird, dessen Ensemblemitglieder selbst jene Fassungslosigkeit erlebt haben, die sich bei Gewaltopfern einstellt, ist natürlich symbolträchtig und führt zu der alten, immer unbequemen Frage: Was kann Theater, was kann Kultur bewirken? Kann das bürgerliche Schauspiel sich rechten Schlägern wirkungsvoll in den Weg stellen? Oder bekommt es dabei nur selbst auf die Fresse?

Als um kurz nach halb acht die beiden Schauspieler die Bühne betreten, stellen sie sich vor, erwähnen den Angriff auf die Kollegen und gestehen, wie sehr ihnen das Veiel-Stück zugesetzt hat. Dann beginnen sie zu spielen, die Rollen der Täter, die der Freunde, der Eltern. Immer wieder unterbrechen sie ihr Spiel, berichten von eigenen Erfahrungen mit Gewalt. Wie in Berlin nach der Wende plötzlich immer mehr Jugendliche sich bewaffneten, erzählt der Schauspieler Sebastian Müller. Die Darstellerin Susanne Hessel gesteht, dass sie fast auch einmal in so eine Sauf- und Gewaltclique geraten sei, nicht in Ostdeutschland, sondern im Odenwald. Sie habe damals »riesiges Glück gehabt«.
Es ist nicht zu übersehen, dass es hier alle - Schauspieler, Regisseur, Intendant, die Theaterwelt allgemein - ungeheuer ernst meinen: Es muss diese Verrohung, ob in Halberstadt oder Potzlow, verstanden, gefasst und vernunftsmäßig domestiziert werden: eine wahnsinnige Anstrengung. Nach der Aufführung, heißt es, solle man bitte noch bleiben, dann würde diskutiert. Und das Publikum?

Dort sitzen zum Großteil Neuntklässler einer Realschule in Wernigerode, 15-jährig, pubertierend - aber gebannt. Die Pädagogin des Theaters, Frau Grasmeier, hat die Schüler hierher gelotst. Keiner von ihnen sieht aus wie ein rechtsradikaler Barbar.
 
Echte Gewalttäter, das hatte Autor Veiel am Nachmittag noch am Telefon erklärt, erreiche er mit seinem Stück ohnehin nicht. Wohl aber die Umgebung, in der Gewalt gedeiht: Eltern, die sich ihre Kinder schönreden, Dorfpolizisten, die nichts unternehmen, Freunde, die dichthalten.

Ein solcher Dichthalter könnte womöglich Franz sein, einer der Schüler aus Wernigerode. Er ist mit seiner Mutter hier, dummerweise, die ihn nun verpflichtet, mit dem Journalisten zu reden. Also: Er sei nicht rechts, sagt Franz, aber er habe seine »eigene Meinung« gerade zu Ausländern.

Die Mutter blickt den Sohn streng an. Er kenne, fährt Franz fort, Leute, die »rechts eingestellt sind«, die auch gern zuschlagen, besonders wenn sie getrunken haben. Das seien trotzdem Freunde.

»Was?«, ruft die Mutter. »Wer?«

Der Sohn flüstert einen Namen.

»Ja. Stimmt. Das ist der Sohn meiner besten Freundin. Was will man machen?«

Dann sagt Franz, dass er versteht, wie es zu so exzessiver Gewalt wie in Potzlow kommen kann. Oder auch in Halberstadt. Wenn man getrunken hat, dann passiere das. Und wenn man eine solche Wut hat.

Volksstimme Halberstadt

Beklemmendes Dokumentar-Theater in der Kammerbühne Halberstadt


Mit „böhsen onkelz“ im Theater


JÖRG LOOSE

Halberstadt. Alles ist anders an diesem Theaterabend. Ein Milchgesicht, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt, guckt mich munter an und schnattert aufgeregt mit seinem befreundeten Teiggesicht, auf dem rote Paus backen leuchten. Etwas tiefer, auf dem Pulli leuchtet der Schriftzug „böhse“ und als die beiden an mir vorbei in die Kammerbühne gehen, lese ich auf den Rücken „böhse onkelz“. Ich bin reichlich irritiert, hier Sympathisanten dieser rechten Szeneband zu begegnen, denn in der Kammerbühne startet gleich die Premiere eines Stückes gegen rechte Gewalt. Als Reflex auf den Angriff einer rechten Schlägerbande gegen Mitglieder des Nordharzer Städtebundtheaters im Frühsommer vergangenen Jahres hat Intendant André Bücker das dokumentarische Stück „Der Kick“ von Andres Veiel und Gesine Schmidt, dessen Inszenierung eigentlich erst für die kommende Spielzeit geplant war, vorzeitig in den Spielplan aufgenommen.
Am Beispiel einer, auch für nur halbwegs belichtete Geister absolut unfasslichen Gewalttat im brandenburgischen Potzlow, bei der ein Jugendlicher im Jahre 2002 von „Freunden“ aus einem rechtsradikalen Umfeld erst viehisch gequält, misshandelt, dann umgebracht und in einer Jauchegrube verscharrt wurde, versuchen Regisseur Axel Sichrovsky, Ausstatterin Norgard Kröger sowie die Darsteller Susanne Hessel und Sebastian Müller das Unbegreifliche aus dem gesellschaftlichen Nachwendeumfeld einer Verlierergeneration begreifl ich, irgendwie nachvollziehbar zu machen - wo liegen die Ursachen dieser Gewalt?
Alles ist anders an diesem Theaterabend. Auf der Bühne stehen Stühle für das Publikum. Das Stück spielt im Zuschauerraum, auf der Bühne, überall – direkt unter uns. Die gesamte Inszenierung gleicht einer Endlosschleife, die dem Besucher immer wieder einhämmert: Was Du hier siehst ist keine künstliche Erfi ndung des Theaters! Das ist die Normalität, das ist unsere Realität – böhse onkelz inklusive. Gasbetonsteine stehen herum, gleichen Grabsteinen oder Mahnmalen. Mit einem solchen Stein wurde der Junge erschlagen – Steine des Anstoßes in jedem Fall. Kern des Stückes ist das Verhör eines Täters. In vier Sitzungen berichtet eine stockende, fast kindliche Stimme (überaus beklemmend von Susanne Hessel gesprochen) von der Tat. Diese Verhörprotokolle sind eingebettet in fast übergangslos verknüpfte Szenen, die zuerst mit Mutter und Freund das Umfeld des Opfers beleuchten, dann aber das familiäre und gesellschaftliche Milieu der Täter sezieren - Eltern, Geschwister, Freundin und Freunde kommen zu Wort. Kein Schwarz, kein Weiß, aber kräftige Striche eines grauen Nachwendealltags.


Überragend mit beängstigender Wandlungsfähigkeit gespielt


Keine Monster, ganz normale Menschen, deren Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte auf dem Altar der Deutschen Einheit geopfert wurden. Das alles ist stimmig, plausibel und von Hessel und Müller überragend und mit beängstigender Wandlungsfähigkeit gespielt. Aber ist das alles? So sehr das Stück auch ein konkretes gesellschaftliches Nachwendemilieu rekonstruiert, in dem die blinde, absolut sinn- und nutzlose Gewalttat, nicht einmal als bewusst geplanter Widerstand sondern vielmehr als ein diffuses Aufbäumen der Verlierer deutsch- deutscher und europäischer Einheit möglich wird - erklärt das die viehische Abschlachtung eines Menschen?
Alles ist anders an diesem Tag. Ich gucke auf die beiden sympathischen Milchgesichter, die dem Stück gebannt folgen – und fürchte plötzlich, dass es nicht nur die Umstände sind. Vielleicht ist es auch der Mensch? Verlierer einer Gesellschaft – die sich heute in extremen, braunen Jauchegruben sammeln - hat und wird es immer geben. Damit diese aber zu den rational schwer nachvollziehbaren Gewalttaten, von denen die menschliche Geschichte voll ist, fähig werden, bedarf es einer latenten Aggressivität und Gewaltbereitschaft, die der Gattung Mensch ganz offensichtlich eigen ist. Wir würden wohl selbst im Paradies Streit und Krieg anfangen. Also müssten wir nicht nur die Umstände, wir müssten vor allem uns ändern – geht das? Mein Blick streift die beiden Milchgesichter und ich habe Zweifel. Wollen die beiden in ihrer unwissenden Naivität kindlich provozieren oder wissen sie vielleicht nicht einmal, was sie da anhaben? Und ich weiß nicht, was mir mehr Unbehagen bereitet. Aber vielleicht hat ja das Stück, dem die beiden, wie das gesamte Premierenpublikum, begeistert applaudieren, bereits ein Samenkorn gelegt. Vielleicht wird ja alles ganz anders.

Axel Sichrovsky
axel.sichrovsky@gmail.com