OLEANNA_VR_360grad

Staatstheater Augsburg

2021

Mixed.de

VR-Staatstheater Augsburg im Test:
Theater sieht Zukunft

BENJAMIN DANNEBERG

Das Staatstheater Augsburg zeigt eindrucksvoll, dass Theater weiter gedacht werden und sogar in einer Pandemie den Spielbetrieb aufrechterhalten kann. Die Vorteile von VR sind unbestreitbar, etwa wenn das gerade mitten in der Sanierung befindliche Große Haus des Staatstheaters als Bühne genutzt wird oder sich Schauspieler in „Oleanna“ in einem echten Hühnergehege ein hitziges – und visuell äußerst bemerkenswertes – Wortgefecht über Sexismus liefern.
Ich als Zuschauer bin Mittelpunkt dieser Inszenierungen: Alles dreht sich um mich. Das ist eine interessante Dimension. Während im klassischen Theater die Schauspieler maximal die Gänge zwischen den Zuschauerreihen als erweiterte Bühne nutzen können, haben sie in einer VR-Aufführung den gesamten Raum um die Kamera zur Verfügung.

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Süddeutsche Zeitung

360-Grad-Drama: Vorwürfe im Raum


Das Staatstheater Augsburg hat "Oleanna" als Virtual-Reality-Stück inszeniert. Dabei kommt der Zuschauende dem Kampf zwischen einer Studierenden und ihrem Dozenten unangenehm nah.


CHRISTIANE LUTZ


"Einer muss immer leiden. Und bisweilen leiden wir alle. Ist es nicht so?" fragt Carol am Schluss. Da ist John schon völlig am Ende, ihm droht eine Anklage wegen Vergewaltigung. Carol hat den Kampf Dozent versus Studentin gewonnen. Nicht, weil sie recht hat, sondern weil sie sein Leiden erzwungen hat. Auge für Auge, scheint sie zu denken, wie es im Zweiten Buch Mose heißt. Um vermeintliche Gerechtigkeit geht es aber nicht in David Mamets Stück "Oleanna", sondern um Deutungshoheit und die Frage, wem zugehört wird. Klingt wie ein Stück zur "Me Too"-Debatte, der Text des amerikanischen Dramatikers ist aber schon 30 Jahr alt. Die Debatte ist aber sicher mit verantwortlich, dass das Stück derzeit auf vielen Spielplänen steht. Jetzt, wo überall genauer hingeschaut wird auf Macht und deren Missbrauch und wo eine lang fällige Neubewertung von sexistischem Verhalten oder gar sexualisierter Gewalt stattfindet. Am Staatstheater Augsburg hat Axel Sichrovsky "Oleanna - ein Machtspiel" 2019 inszeniert und nun als Virtual-Reality-Erlebnis neu aufgelegt.
Man steht also, die VR-Brille auf dem Kopf, mittendrin im Kampf zwischen der Studentin Carol (Katja Sieder) und ihrem Dozenten John (Andrej Kaminsky). Sie begegnen sich im ersten Akt in einer wunderschönen Bibliothek, bis zur Decke gefüllt mit Wissen. Carol hat nichts verstanden in Johns Seminar, ihre Arbeit fiel miserabel aus, verstört klammert sie sich an ihren Block. John redet pausenlos und leitet seine Sätze mit "Hören Sie" und "Sehen Sie" ein. Er ist gewohnt, dass man ihm Aufmerksamkeit schenkt. Er bietet Carol an, das Seminar privat zu wiederholen, sie sei ihm "sympathisch". Sein Telefon klingelt, seine Frau, der Vertrag für einen Hauskauf wartet, denn der Karriereschritt, eine Professur auf Lebenszeit, steht bevor.
Daraus wird nichts, denn Carol bezichtigt ihn nach diesem Gespräch des Machtmissbrauchs, sie reicht Beschwerde bei der Uni ein, schließlich wirft sie ihm versuchte Vergewaltigung vor. John strauchelt und fällt schließlich, fassungslos. Dass er offenbar jungen Frauen gern die Welt erklärt, dass er sich seiner Macht etwas zu sicher ist, wie er mit großen Gesten durch den Raum wandelt, das ist unangenehm, es ist sexistisch und elitär, aber keine Straftat, die ihn die Karriere kosten sollte.

Woher Carols Zorn kommt, lässt sich nur vermuten. Sie spricht von großer Anstrengung, die sie das Studium koste, von Demütigungen. "Wie Sie zwei Semester ausnutzen, was Sie für Ihr ,paternales Prärogativ' hielten, was ist das anders als Vergewaltigung!", beschließt sie. Sie macht aus ihren schlechten Erfahrungen also eine Täter-Opfer-Geschichte, im Wissen, dass von jetzt an ihr, dem vermeintlichen Opfer, zugehört wird. In dieser Deutungshoheit liegt, neben häufig sehr realem Schmerz, zweifelsohne wiederum eine Macht, derer sich Carol bedient, die sie missbraucht. Sie zwingt dem Zuschauer ihre Lesart der Ereignisse auf, an die sie möglicherweise selbst nicht glaubt. Wichtig ist, dass alles so sein könnte. Sie führt einen Kampf, stellvertretend für Frauen in unterlegenen Positionen, gegen John, stellvertretend für alle Männer in Machtpositionen.
Das VR-Theater im heimischen Wohnzimmer ist ein grundlegend anderes, als etwa ein Stream am Monitor. Es bedarf einer gewissen Hingabe ans Format, weil man mit Brille und Kopfhörer nichts anderes sieht und hört. Bei der "VR-Oleanna" fühlt man sich den Figuren auf diese Weise physisch sehr nah, was bisweilen unangenehm ist. Man ist Zeuge und hat doch keine Ahnung, was wirklich passiert ist. Der zweite Akt spielt in einem dunklen Verhörraum, der dritte auf einer Hühnerfarm, bei dem einem ganz real um die Füße gegackert wird. Das große Finale, bei dem Carol John vorführt. Jetzt redet sie, er ist nurmehr ein Gockel ohne Misthaufen.
Augsburg hat schon vor der Pandemie mit der Virtual-Reality-Technik gearbeitet. Jede VR-Inszenierung ist mit einer 360-Grad-Kamera gefilmt, somit besteht die Möglichkeit, den Blick zu bewegen, zwischen Sprechenden hin und her zu schwenken oder aus dem Fenster zu gucken. Inzwischen gibt es sechs VR-Produktionen, "Oleanna" ist die jüngste Ergänzung und ein großer Zugewinn, nicht nur in diesen Zeiten. Das liegt auch an der Aktualität des Textes und seiner Qualität. Beide Figuren sind herzlich unsympathisch. Dem Reflex, einem von beiden recht geben zu wollen, lässt sich widerstehen. Hier hat keiner recht, und es haben beide recht. Das Stück legt Machtstrukturen zwischen Lehrenden und Studierenden, zwischen Männern und Frauen offen und spielt die Möglichkeit zum Missbrauch der jeweiligen Machtposition aus. Das ist immer verwerflich und am Ende gewinnt damit niemand. Ein trauriger Befund vor allem über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, das heute noch mehr als 1992 von gegenseitigem Misstrauen geprägt ist.

Die Bibelstelle vom "Auge für Auge" wird übrigens oft missverstanden. Es geht bei ihr nicht darum, Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Nein, sie ist ein Plädoyer für Fairness und Verhältnismäßigkeit im Ringen um Gerechtigkeit.
© SZ vom 21.01.2021

Bayrische Staatszeitung

Soziologischer Pas de deux

Das Staatstheater Augsburg begeistert mit der Virtual-Reality-Premiere von David Mamets „Oleanna“

CHRISTIAN MUGGENTHALER

Systemen, die auf tradierten Machtsystemen basieren, kann niemand entkommen, der drinnen hängt. Das gilt für Klein, Groß, für jene, die in der Gesellschaft oben oder unten stehen: Die Gefangen- schaft im System ist unabhängig davon, welche Positionen man selbst in ihm besetzt. Ist in einem solchen Beziehungsgeflecht ein Drüber und Drunter automatisch festgelegt, beeinflusst dieser Auto- matismus alles menschliche Mitei- nander grundsätzlich.

Grenzen werden festgelegt, die weder von oben noch von unten durchdrungen werden dürfen. Solche Grenzen haben fast die ge- samte Literatur des 19. Jahrhun- derts beschäftigt, und es gibt sie heute, im 21. Jahrhundert, immer
noch, wie das Stück Oleanna von David Mamet beweist. Dieses Stück, das es in einer Virtual-Rea- lity-Inszenierung des Staatsthea- ters Augsburg zu sehen gibt, ist mit „ein Machtspiel“ untertitelt und spürt einem solchen System am Beispiel des Universitätsbe- triebs nach. Es macht Grenzen sichtbar.

Da gibt es den Mann und die Frau, den Professor und die Stu- dentin, deren Aufeinandertreffen in einer Sprechstunde ein gran- dioses Missverständnis erzeugt, weil beide die Wirklichkeit aus- schließlich aus ihrer Warte heraus wahrnehmen, ja, gar nicht anders können: Er sieht das verunsicher- te Mädchen, das seine Sympathie erregt und dem er helfen will, sie
den sie überwölbenden Mann und seine abstrakten Thesen, die sie nicht erreichen, stattdessen verlet- zen.

Dieser erste Akt spielt in einer altehrwürdigen Bibliothek, einem Kultort der Gelehrsamkeit. Alles, was sich aus dieser Grundkonstel- lation ergibt, muss spannungshal- ber nicht erzählt werden. Nur so viel: Mamet gibt Schicht um Schicht Konsequenzen aus dem Bibliothekstreffen preis, die genau mit einem solchen Machtsystem zu tun haben. Dieser soziologi- sche Pas de deux führt ständig zu Haltungen der beiden Figuren, die konträr zueinander sind, sich nicht einmal ansatzweise verste- hen.

Fließende Grenzen

Das Publikum, das die Ansich- ten und Absichten beider von au- ßen erkennt und wahrnimmt, muss zwar ebenfalls eine Haltung zum Stück und seinen Personen einnehmen, aber es gibt keinerlei Schwarz-Weiß-Zeichnung, die Grenzen sind fließend: Wer hat Recht? Hat wer Recht? Oder liegt der Fehler tatsächlich im System?

Die VR-Inszenierung des Stü- ckes durch Axel Sichrovsky macht aus der Not eine Tugend. Sie zwingt den Zuschauer ständig, die
verschiedenen Positionen der zwei zu Hause mit der Brille kör- perlich nachzuvollziehen, er muss sich ständig drehen und wenden, um in diesem virtuellen 360-Grad- Raum beide sehen zu können.

Corona lässt derzeit im Schau- spiel keine Körperkontakte zu: Also umkreisen die beiden Akteu- re einander permanent, witzig und eigentlich völlig logisch zuletzt in einem Hühnerfreigehege als Kampfarena, wozu sie die Zu- schauerin und den Zuschauer erst einmal aus dem Stall ziehen müs- sen. Das klappt alles wunderbar und kommt wirklich nahe. Schnell ist man im Aufnahmemo- dus und aus der Experimentalsi- tuation der Virtual Reality raus.

Die famosen Katja Sieder und Andrej Kaminsky ziehen spielend allmählich eine weitere Ebene ein, indem sie den Konflikt Professor- Studentin in ihre persönliche Spielsituation übertragen, als Schauspielerin und Schauspieler über ihre Rollen und Zuschrei- bungen diskutieren, das Ganze damit auch mit dem Pfefferminz der Ironie schön durchkauen und frisch machen. Man kann zu Hau- se nur applaudieren.


BR KulturBühne

Theater per Post Prä-MeToo-Drama "Oleanna" als VR-Erlebnis


Das Staatstheater Augsburg zeigt ein hochaktuelles Stück über die Grenze zwischen sexistischer Rede und handfester Belästigung. Dem kann man sich nur schwer entziehen – auch, weil wir Dank Virtual Reality mitten im Geschehen stehen.


CHRISTOPH LEIBOLD

Vor zwei Jahren feierte am Staatstheater Augsburg eine Neu-Inszenierung von David Mamets "Oleanna" Premiere. Der US-Dramatiker nahm in seinem bereits 1992 entstandenen Stück viele Themen vorweg, die heute, über zweieinhalb Jahrzehnte später, im Zuge der MeToo-Debatte stärker denn je diskutiert werden. Jetzt hat Axel Sichrovsky, Regisseur der Augsburger Produktion, das Stück ein weiteres Mal inszeniert. Diesmal aber nicht für eine Live-Vorstellung vor Publikum – denn die Theater sind ja derzeit geschlossen – sondern als Virtual-Reality-Theatererlebnis. Basierend auf seiner hochgelobten Bühnenfassung von 2019 hat Sichrovsky eine Bearbeitung für VR-Brillen entwickelt. Am Montagabend war sozusagen Premiere, denn da wurden die Brillen erstmals ausgeliefert. Eine Kritik von Christoph Leibold.
Das Theater kommt mit dem Paketdienst nachhause: Geliefert wird ein Karton, darin die VR-Brille. Die muss man einfach auspacken, aufsetzen, anschalten – dann kann man eintauchen in die virtuelle Wirklichkeit.

360-Grad-Rundumblick

Da stehe ich nun also als Zuschauer scheinbar mitten in einer alten Bibliothek. Wenn ich mich an meinem realen Standort, zum Beispiel daheim im Wohnzimmer, mit der VR-Brille vorm Gesicht einmal um mich selbst drehe, sehe ich nicht den eigenen Wohnzimmertisch, sondern im 360-Grad-Rundumblick einen Raum voller Bücherregale. Ich meine fast den spezifischen Geruch alter Wälzer zu riechen und spüre die ungeheure Macht des Wissens, das in diesen gewichtigen Werken steckt.
Für die Studentin Carol ist dieses Wissen eine Last, eine Belastung, deshalb sucht sie den Kontakt zu John, ihrem Professor. Mit schöner Mischung aus Verzweiflung und trotzigem Willen zur Selbstbehauptung berichtet Katja Sieder als Carol von ihrer Überforderung mit dem Lehrstoff, und ich werde zum stummen Zeugen dieser Begegnung von Studentin und Professor.

Sexismus, ja. Aber sexuelle Belästigung?

John zeigt Verständnis, bietet seine Hilfe an, plaudert aus dem Nähkästchen eigener Frusterlebnisse. Nicht unsympathisch, wie Andrej Kaminsky diesen Professor spielt, doch im gut-väterlichen Auftreten steckt auch eine gehörige Portion Paternalismus: Man spürt die Herablassung des alten Mannes gegenüber der jungen Frau, sieht klassisches Mansplaining nach dem Motto "Hey Mädel, ich erklär` Dir die Welt!" Das ist Sexismus, zwar nur latent, aber letztlich doch unübersehbar. Doch lässt sich der gleichsetzen mit sexueller Belästigung?
Mit eben dieser Anschuldigung, später gesteigert zum Vergewaltigungs-Vorwurf, konfrontiert Carol im Folgenden John, der nun um seine Universitätskarriere bangt. Ich bin der unsichtbare Dritte im Raum, den es nur in dieser virtuellen Realität gibt, aber in solchen Fällen nie im echten Leben. Ich könnte John freisprechen von den Vorwürfen, und würde Carol dennoch nicht der Verleumdung bezichtigen. Denn sie lügt und sagt doch die Wahrheit, denn ihr Machtmissbrauch ist aus alltäglich erfahrener Ohnmacht erwachsen.

Realismus wird zu Surrealismus

David Mamet hat dieses Spiel um Macht und Ohnmacht klug ausbalanciert, ein einfaches Urteil ist unmöglich. Und Axel Sichrovskys VR-Brillen-Inszenierung sorgt dafür, dass aus diesem Hörsaal- noch mehr als nur eine andere Art von Gerichtssaal-Drama mit Schlagabtausch zwischen Anklage und Verteidigung wird. Dem Realismus des ersten Aktes setzt er im letzten Akt Surrealismus entgegen.
Der Kampf um eine andere Hackordnung spielt nun auf einem Hühnerhof. Im virtuellen Rundumblick sehe ich neben John und Carol Hennen zu meinen Füßen im Gras picken und die Souffleuse auf einem Campingstuhl im Moorhuhn-Kostüm. Die VR-Technik dient nicht mehr dazu, möglichst "echtes" Erleben zu simulieren, sondern entführt in ein betont bizarres Szenario.

Der Vorwurf wird als Metapher begreifbar

Interessanterweise schadet das der Auseinandersetzung mit den wirklichkeitsnahen Fragen, die das Stück aufwirft, nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Das Surreale der Situation, in die Axel Sichrovsky die Handlung verlegt hat, erlaubt sogar eine breitere Beschäftigung. Juristisch betrachtet sind Carols Bezichtigungen fragwürdig. In einem Setting aber, das der Eins-zu-Eins-Abbildung von Realität enthobenen ist, wird nicht nach geltendem Recht, sondern nach den Gesetzen der Kunst verhandelt. Carols Vorwurf wird so als metaphorische Anklage begreifbar: Gegen eine Gesellschaft, in der noch immer patriarchale Machtstrukturen herrschen. Diese Anklage ist nicht so leicht vom Tisch zu wischen.
Beim Abnehmen der VR-Brille nach der Vorstellung ist mir leicht schwummrig. Mein Kopf schwirrt angesichts der aufgeworfenen Fragen – und auch ein bisschen, weil die virtuellen 360-Grad-Bilder meinem Hirn Streiche gespielt haben, die Schwindelgefühle auslösen. Eine in jeder Hinsicht bewegende Inszenierung.

Augsburger Allgemeine

"Oleanna" ist jetzt als Virtual-Reality- Stück verfügbar

Vor zwei Jahren hatte "Oleanna" im Hörsaal der Universität Premiere, jetzt bringt das Staatstheater das Stück auf VR-Brille heraus. Funktioniert das auch so?

RICHARD MAYR

Eine Studentin kommt zur Sprechstunde des Professors. Sie hat eine Frage, er wird grundsätzlich. Eine Ewigkeit lang reden sie aneinander vorbei. In einer großen Geste zweifelt er grundsätzlich alle Noten und das ganze System an und macht ihr das Angebot, ihr eine 1 zu geben, wenn sie fortan zum Privatunterricht bei ihm kommt - weil sie ihm sympathisch ist. Sie fühlt sich komplett missverstanden. Harmlos, alltäglich, eine Lappalie, möchte man meinen. Das Gegenteil ist der Fall, es ist der erste Akt zu David Mamets Zwei-Personen- Stück "Oleanna - ein Machtspiel", mittlerweile schon 19 Jahre alt, aber immer noch aktuell, wenn man mal davon absieht, dass Präsenzunterricht an Universitäten in Zeiten der Pandemie die absolute Ausnahme darstellen wird.

Vor zwei Jahren hat das Staatstheater Augsburg das Stück im Hörsaal der Universität Augsburg inszeniert, als ein Beitrag zur #meToo-Debatte. Gleichzeitig war das damals das Ende der Wanderschaft, kurz danach konnte die neue Spielstätte im Gaswerkareal eingeweiht werden. Nun kommt diese Produktion von Regisseur Axel Sichrovsky noch einmal neu heraus, in einer Zeit, in der es gar keine Normalität des Theaterbetriebs gibt. Seit Wochen sind die Zuschauerräume verweist, kann wegen des zweiten Lockdowns nicht gespielt werden.
In seiner Virtual-Reality-Reihe kommt das Augsburger Staatstheater nun auch mit "Oleanna" zum Publikum nach Hause - auf einer Virtual-Reality-Brille. Nur kurz für all diejenigen, die das noch nie gesehen haben: Man muss sich das wie einen Film vorstellen, der mit einer 360- Grad-Kamera aufgenommen wurde. Die Brille verschafft einem ein dreidimensionales Bild von der Kulisse und den Schauspielern. Und: Man kann sich um seine eigene Achse drehen, auch dorthin, wo die Schauspieler gerade nicht aktiv sind.

Erster Ort für VR-Produktion von "Oleanna" wirkt wie eine schöne Kulisse

Je länger das dauert, desto mehr zieht es einen hinein in diese Fassung des Stoffs. Störend ist da nur die Kulisse des ersten Akts, eine alte Barock- oder Rokoko-Bibliothek mit Galerie und alten Globen im Raum, die als Büro des Professors John (Andrej Kaminsky) herhalten muss. Zu alt und viel zu klar belegt als ein Ort, an dem die alten patriarchalen Regeln gelten. Für dieses Stück, das grundsätzlich anzweifelt, dass die Sprache eine Brücke zwischen den Geschlechtern sein kann, das gleichzeitig geschickt die Macht verschiebt, weg vom Professor und hin zur Studentin, für dieses Stück, das so vieles in der Schwebe lässt und dadurch ein kluger Beitrag zur Debatte ist, erscheint dieser erste Ort zu Eindimensional, wie eine schöne Kulisse für die VR-Brille. Und ja, da wirkt der Ort dann schon auch optisch.

Im Anschluss gewinnt diese VR-Inszenierung. Der zweite Akt, ein Zwischenspiel, in dem die Studentin Caroll (Katja Fiedler) und der Professor sich gegenübersitzen und die Vorwürfe, die Caroll jetzt erhebt ("Pornografie, eine Vergewaltigung"), erst einmal dramatisch überzogen erscheinen. Beide wirken da wie Geister in einem dunklen Raum, sitzen sich gegenüber, der Zuschauer ist in dieser Zwiesprache buchstäblich mittendrin, umringt von den beiden Darstellern, fühlt sich angesprochen oder wie ein Schiedsrichter in diesem Schlagabtausch.

Staatstheater Augsburg erarbeitet immer mehr digitale Kompetenz

Danach kommt die entscheidende Volte in dieser VR-Produktion. In kurzen Zwischenblenden waren bislang vor den Akten immer Hühner in einem Fernseher eingeblendet, wie kurze Kommentare, die mit Weisheiten aus dem Tierreich veranschaulichen, dass dieser Kampf der Geschlechter nach zoologischen Regeln stattfindet. Nun findet der dritte Akt, in dem Caroll endgültig die Oberhand gewinnt, tatsächlich draußen statt. Als Zuschauer ist man mittendrin in einem Hühnerstall, die beiden Schauspieler, jetzt nicht mehr in ihren Rollen, suchen den Zuschauer, bringen ihn, in Form der Kamera nach draußen.

Das Licht ist grau, der Himmel verhangen, in einiger Entfernung ist der Gaswerksturm als Landmarke zu sehen, das ist ein wirklicher Ort, mit echten Hühnern, und zwei Mal queren auf dem Weg hinterm Stall auch Passanten das Bild. Gegenüber steht ein Pferd auf der Koppel, ein Ort, den man in Augsburg tatsächlich finden kann. Und da bricht der Regisseur (wie auch schon in seiner Hörsaal-Inszenierung vor zwei Jahren) das Setting auf, lässt die Darsteller Regie-Anweisungen sprechen, auch darüber spekulieren, warum sich so oft Männer in Stücken ausziehen, die von Männern inszeniert werden. Kaminsky und Fiedler tauschen dazu zwischendrin auch noch die Rollen. Man hat in diesen Augenblicken den Eindruck, dass diese Geschlechterzuweisungen beim Menschen etwas Gemachtes sind, ganz weit weg von den Hühnern, die sich nicht groß von den beiden Schauspielern stören lassen. Ja, das geht auf. Und: Von Stück zu Stück erarbeitet sich das Staatstheater Augsburg für seine VR-Brillen mehr digitale Kompetenz und künstlerische Virtuosität im Umgang damit. "Oleanna" lohn sich auch in dieser Fassung.

OLEANNA_David Mamet

Staatstheater Augsburg

2019

Bayrischer Rundfunk


Wie das Theater Augsburg den Missbrauch auf die Bühne bringt

David Mamets Theaterstück "Oleanna" behandelt den Paradefall sexueller Übergriffigkeit: Arrivierter Universitätsprofessor trifft ambitionierte Studentin. Das Staatstheater Augsburg hat den Klassiker jetzt neu inszeniert – im Hörsaal der Universität.

Man spürt es als Zuschauer sofort: Die Macht- und Sprachverhältnisse in einem Hörsaal sind ziemlich eindeutig. Unten am Pult der Professor, der Wissen hat und redet. Ihm gegenüber, im Auditorium, die Studierenden, die zuhören und mitschreiben. Oder Bühne und Publikum, also wie im Theater. Nur, dass im Theater klare Verhältnisse ja meistens auf dem Prüfstand stehen und die eindeutige Aufteilung, wer wen spricht, heute gerne durcheinander gerät.
Als Aufführungsort bewegt sich der Hörsaal also zwischen Herrschaft und Spiel – Pole, die Regisseur Axel Sichrovsky mit seiner Inszenierung von David Mamets „Oleanna“ äußerst intelligent auszuloten weiß. Am Anfang sind die Rollen noch ziemlich klar: Andrej Kaminsky spielt einen durchaus sympathischen aber doch sehr selbstverliebten Professor John.

Professor Selbstverliebt und Studentin Stammel

Der versucht zwar seiner Studentin Carol – strebsam und trotzdem widerspenstig gespielt von Katja Sieder – zuzuhören, aber die eigenen Exkurse über Lehrmethoden, Kränkungserfahrungen oder die Kritik am Bildungssystem klingen in seinen Ohren eben doch verführerischer als das Stammeln seiner Studentin.
Ganz nah an David Mamets Stücktext spielt Kaminsky versiert auf der Klaviatur kommunikativer Register. Gibt den narzisstischen Wissenschaftler, den kümmernden Vater, den verkannten Intellektuellen oder den großen Bruder. Und merkt nicht einmal, als Carol den väterlichen Arm auf ihrer Schulter vehement abwehrt, dass er an seinem Gegenüber vorbei agiert. Ein Mann mit Macht und Privilegien – naiv, aber deswegen nicht unschuldig. So sieht es jedenfalls Carol.

Dann der Vorwurf: Ein sexueller Übergriff

Im zweiten Akt von „Oleanna“ hat Carol John des sexuellen Übergriffs beschuldigt, Johns Berufung auf den Lehrstuhl ist deshalb gefährdet. In großprojizierten Videoaufnahmen sieht man die Gesichter der beiden Schauspieler, die sich vor den Projektionen gegenübersitzen. Die Fronten haben sich verhärtet, die Perspektiven vervielfältigt. Der Versuch eines klärenden Gesprächs wirkt im Setting aus Video und statischer Sitzordnung wie eine Mischung aus Beichtstuhl und Verhör, Bekenner-video und Tribunal.
Naiv gegenüber Macht und Ohnmacht ist jetzt keiner mehr, die individuelle Existenz wird in soziale Zusammenhänge eingebunden. Einerseits John, der um sein Recht auf die Bürgerlichkeit einer etablierten Mittelschicht bettelt. Auf der anderen Seite Carol aus der Unterschicht, die Teilhabe, Stimme und Macht beansprucht. Und genau diese, die Macht, gewinnt sie mit dem Vorwurf des sexuellen Übergriffs. Ob Wahrheit oder nicht, ist nicht mehr die zentrale Frage. Ein Verschwimmen von Positionen, das im dritten Teil des Abends noch einmal eine Steigerung erfährt.

Kommentieren, chargieren, parodieren

In bester Manier des epischen Theaters treten Andrej Kaminsky und Katja Sieder jetzt neben ihre Figuren, tauschen Kostüme, übertreiben das psychologische Spiel, brechen es wieder. Kommentieren, chargieren, parodieren. Die Qualität in David Mamets Stück, dass nie entschieden werden kann, welche Position wahr oder richtig ist, überführt die Aufführung in ein lustvolles, ironisches, dann wieder berührendes theatrales Spiel.

Mamets Text mutiert zum Gegenstand einer performativen Diskussion, in der Anspielungen auf aktuelle Debatten nicht fehlen: #Metoo, Fake News, political correctness, angry white men, Gleichberechtigung im Theater. Wo der Ursprungstext mit einer finalen Vergewaltigungsanklage einen unüberbrückbaren Graben zwischen den Geschlechtern ans Ende setzt, zeigt die Aufführung den Gendertrouble als Chance.
Als Aufforderung, Perspektiven zu wechseln, Positionen zu tauschen, über den Streit zum Verständnis zu kommen. Nach dem Showdown zwischen den Figuren Carol und John ist die Umarmung ihrer Darsteller das hoffnungsvolle Ende eines Abends, der über Machtstrukturen und das Verhältnis der Geschlechter sehr vielschichtig nachzudenken aufgibt.

Augsburger Allgemeine


Oleanna: MeToo, Sexismus, Machtkampf

An diesem Abend beginnt die Luft im Hörsaal langsam zu brennen.

 RICHARD MAYR

Alles scheint völlig klar. Professor John muss als Opfer herhalten, er muss als Vertreter männlicher Macht gestürzt werden. Die Anklage: raffiniert. Vorgeworfen werden ihm von seiner Studentin Carol ein willkürliches Hinwegsetzen über die Universitätsregeln ("Ich kann Ihnen eine 1 geben, wenn sie öfters zu mir privat kommen"), vor allem aber Sexismus, Pornographie und sexuelle Belästigung. Und John kann das nicht fassen. Das Publikum hat es ja selbst gesehen. Carol verstand den Stoff nicht, John wollte ihr jenseits des Unterrichts helfen. Er erzählte von seinen Schwächen, um ihr zu zeigen, dass sie sich nicht unähnlich sind. Sie erfährt, dass er zwar als Professor auf Lebenszeit berufen ist, der Vertrag aber noch nicht unterschrieben ist. Er macht ihr das Angebot, alles anders und jenseits der Vorschriften zu regeln. Sie lehnt das ab; er legt ihr die Hände auf die Schultern; sie weißt die Geste vehement zurück. Alles harmlos, möchte man nach dem ersten Akt von David Mamets Zwei-Personen-Stück "Oleanna" meinen. Mitnichten.

Kurz vor der ersten Premiere in der neuen Brechtbühne auf dem Gaswerk-Areal verwandelt das Staatstheater Augsburg den Hörsaal 2 der Universität Augsburg in eine Bühne. Gespielt wird dieses mittlerweile schon 17 Jahre alte Stück, das sich wie ein künstlerischer Beitrag zur MeeToo-Debatte liest. Wobei all das, was bei dem US-Filmproduzenten Harvey Weinstein und den Schasuspielerinnen, die seine Opfer wurden, so deutlich ist, hier vollkommen verschwimmt.

Regisseur Sichrovsky setzt Eskalation im Stück ins Bild

Mamet geht es nicht um Eindeutigkeit, auch nicht um die Frage, wer Recht hat. Am Schluss, nach dem dritten Akt, hat John ja all das an physischer Gewalt nachgeholt, was ihm anfangs von Carol vorgeworfen wurde. Irgendwas muss an den Vorwürfen von Carol also dran sein. Im Sinn hat Mamet Grundsätzlicheres.

Er richtet den Blick auf die Kommunikaiton in Machtzusammenhängen. Ein ormales Gespräch, eine Abfolge von Reden und Zuhören, so etwas wie Einsicht und Verstehen scheinen unmöglich. Anfangs unterbrechen sich beide ständig. Das ganze Stück über widersprechen sie sich. Irgendwann muss John schmerzhaft erkennen, wie einfach Reden und Unterrichten für ihn war, als er die Macht inne hatte. Ein Moment der Einsicht, auf den aber nichts mehr fplgen kann, weil John da nichts mehr zu sagen hat, er den Diskurs an dieser Stelle nicht mehr ändern kann. Carol diktiert da die Regeln des Sprechens, als sie sich endgültig in eine Kämpferin für ihre Gruppe verwandelt hat. Sie verfügt jetzt über Macht - und genießt es sichtlich.

Die Eskalation im Stück setzt Regisseur Axel Sichrovsky ins Bild. Die Schauspieler Andrej Kaminsky und Katja Sieder sprechen über Mikrofone, sie müssen nicht schreien, den ganzen ersten Akt über bis zur Pause ist das gesittet. Er trägt dezentes Professoren-Beige, sie hat sich mit einem Wollmantel gepanzert. War da was?, kann man sich zur Pause fragen. Nach der Pause kommen einem die Darsteller sehr viel näher - als übergroße Videoprojektionen in einer Verhörsituation. Im dritten Akt streifen sie die Kleider ab, tragen sie beide dasselbe schwarze Kostüm, geht es endgültig um Archetypisches und um das, was beide verbindet: nämlich die Macht. Dazu wird auch der Text an manchen Stellen verlassen. Beide versuchen, das Publikum auf ihre Seite zu ziehen. Es gibt Schlenker zum Theater selbst ("Warum musst Du Dich jetzt asuziehen? Warum muss in jedem Stück ein Pimmel zu sehen sein?").
Kaminsky fordert das Publikum nackt dazu auf, mit ihm das alte Studentenlied " Die Gedanken sind frei" zu singen.

"Oleanna" am Theater Augsburg: "Sehenswert" 

Anfangs stürzen sich die beiden Schaspieler förmlich in ihre Rollen, lange scheint Kaminskys Professor Herr der Lage zu sein mit diesem kontrollierten Ton, verständnisvoll, aber immer auch ein bisschen gönnerhaft. Sieders Carol dagegen wirkt verunsichert und unnahbar, eine Studentin, die ihr Ich auf arktische Temperaturen herunterkühlen kann. Später brechen diese Charaktere auf, verlassen die Schauspieler die klaren Rollengrenzen, wird es furios. Sieder verwandelt sich wie ein Chamäleon. Zwischen dem hohen Ton weiblicher Verführungskunst und der breitbeinigen Cowboy-Attitüde liegen nur zwei Striche übers Gesicht, nach denen Sieder eine Bart trägt. Und Kaminsky: Wehrt sich mit allem! Umgarnt das Publikum, zieht sich aus und hat trotzdem keine Chance mehr als Professor. Ein Stück und eine Inszenierung, die Diskussionen förmlich heraufbeschwören. War da was? Wer hat Recht? Alles überzogen? Oder: Nein, so ist es! Und dann gibt es da ja noch diese Eben dahinter, das Spiel um die Macht. Sehenswert, das auf jeden Fall ist eindeutig.

 

Axel Sichrovsky
axel.sichrovsky@gmail.com