WUT

Elfriede Jelinek

Landestheater Coburg 2016

REGIE: Axel Sichrovsky

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Furioses Geredeturnen

„Die energietolle Truppe offenbart brachial, behutsam, behend, befeuert und belustigt ihre Lust. Und zwar an einer fordernden Wahrheit: Jedes Jelinek-Stück ist eine Theatervernichtung. Man darf diese Autorin nicht lieben, man muss den Kampf aufnehmen. So wie die Jelinek keine Provokateurin gegen andere ist, sondern schreibend immer wieder zur Selbstabtöterin wird, so kann das Theater die Jelinek nur aufführen, wenn es sich selbst zur Strecke bringt, sich allem versagt, was landläufig, gewohnt, konsumierbar geworden ist. Bravo!“

NEUES DEUTSCHLAND

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Auf einmal ist alles ganz seltsam ergreifend

„Sichrovskys Inszenierung des undramatischen Dramas erweitert die oft abstrakten, sperrigen Textfelder mit ordentlich Schau und Pathos(...). Eine Inszenierung voller Ideen, die den Effekt nicht scheuen, sechs Schauspieler, die sich verausgaben, ein Text auf der Höhe der Zeit.
Jelineks „Wut“ in der Inszenierung von Axel Sichrovsky wühlt ziemlich tief und wird in dieser Nacht noch viele Hirne beschäftigen. Der Applaus ist entsprechend laut und lang.“

NACHTKRITIK.DE

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Ein ganz starkes Stück Theater

„Spannend, oft skurril, sehr einfallsreich, auch vorsichtig witzig trotz des mörderischen Schreckens unserer Terror-Zeit... die Zuschauer mittendrin... Das Ensemble verweigert sich niederdonnernder Epochaldüsternis und geht Jelinek satirisch an...ein ganz starkes Stück Theater“

TAGEBLATT

Video

Ein halbes Jahr nach der Uraufführung an den Münchner Kammerspielen hat nun der österreichische Regisseur Axel Sichrovsky sich der Herausforderung in Coburg gestellt und mit seinem jungen Schauspielerteam eine spielbare Fassung des komplexen Werks entwickelt, die schon des unkonventionellen Theatererlebnisses und der darstellerischen Intensität wegen den Besuch in der Reithalle lohnt.

Eva Marianne Berger, Sarah Zaharanski, Oliver Baesler, Thorsten Köhler, Nils Liebscher und Boris Stark bieten zwei Stunden Powerplay, sie ziehen alle darstellerischen Register von der expressiven Choreografie bis zum ironischen Heidegger-Schuhplattler, vom Pseudo-Impro-Theater bis zur zeremoniellen Performance, in der Liebscher unter Publikumsbeteiligung zum Gips-Gott erstarrt. Suaden, Sprechchöre, Kakophonien kanalisieren die wortgewaltige Analyse, die kopf- und bauchgesteuert daherkommt, ihr Thema philosophisch und psychologisch, rational und sinnlich, emphatisch und polemisch zu fassen versucht.

Thorsten Köhlers "Monsternummer", in der ein systematisch Gedemütigter ausrastet und schließlich unter den Klängen des Deutschlandlieds seinen pathetischen Nationalismus förmlich herauskotzt, ist ein tragikomischer Höhepunkt des Abends.

NEUE PRESSE

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Das ist spannend, oft skurril, sehr einfallsreich

...auch vorsichtig witzig trotz des mörderischen Schreckens unserer Terror-Zeit.
Versuchsleiter Axel Sichrovsky und das wild entschlossene Laborpersonal, Eva Marianne Berger, Sarah Zaharanski, Oliver Baesler, Thorsten Köhler, Nils Liebscher und Boris Stark, haben sich niederdonnernder Epochaldüsternis verweigert.Es ist ein satirischer Blick, aus dem heraus sie die zehn Stationen des breit angelegten (Sprach-)Versuches verfolgen,
(...)alles in allem ist diese Bühnen- Wut des Landestheaters Coburg ein ganz starkes Stück Theater.

NEUE PRESSE FEUILETTON

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Version 2
Version 2

 

BESETZUNG
Eva Marianne Berger
Sarah Zaharanski
Oliver Baesler
Thorsten Köhler
Nils Liebscher
Boris Stark

 

REGIE
Axel Sichrovsky

BÜHNE und KOSTÜME
Michael Graessner
Moritz Nitsche

DRAMATURGIE
Carola von Gradulewski

MUSIK
Oliver Baesler

CHOREOGRAFIE
Mark McClain

 

BESETZUNGREGIEAUSSTATTUNGMUSIKKOSTÜMEDRAMATURGIE
Eva Marianne BergerAxel SichrovskyMichael Graessner
Moritz Nitsche
Oliver BaeslerMark McClainCarola von Gradulewski
Sarah Zaharanski
Oliver Baesler
Thorsten Köhler
Nils Liebscher
Boris Stark

Presse komplett

NEUES DEUTSCHLAND
von Hans-Dieter Schütt

 

Furioses Geredeturnen

Der Schluss macht augenzwinkernd Schluss: Ein Zuschauer bekommt eine Batterie Sprengstoff überreicht. Klare Anweisung: Wenn sich die Schauspieler in Sicherheit gebracht hätten, solle er den Knopf drücken. Er wird es tun. Finsternis. Es regnet Papierblätter. Ein Simulationsjux. Lachen, klar. Aber ein Sekündchenbruchteil Beklemmung ist wohl nicht zu vermeiden, er gehört zum Kitzel, den wir ja immer selber wollen, den muss uns keiner eintrichtern. Wo das Leben die Sau rauslässt, also Blut lässt, da gucken wir hin und beteuern, das könnten wir nicht sehen. Im Fernsehen heißt das »Blickpunkt« und kommt nach dem Wetterbericht. Wir nehmen oft etwas wahr, ohne es für das Wahre nehmen zu wollen. Wir sehen gern hin und gleichzeitig weg. Doppelt hält besser, auch in der Moral. Daher kommt es immer wieder vor, so erzählt die räudige Hure Geschichte, dass Menschen plötzlich weg, aber und wir noch da sind. Bevor sie von anderen weggeschleppt, weggeschossen werden, werden sie von Leuten wie uns weggesehen.
»Wut« von Elfriede Jelinek, am Landestheater Coburg inszeniert von Axel Sichrovsky (Bühnenbild und Kostüme: Michael Graessner, Moritz Nitsche), reagiert auf die Anschläge von Paris im Januar 2015, als acht Mitglieder der Redaktion des Satiremagazins »Charlie Hebdo«, zwei Polizisten und vier Kunden eines jüdischen Supermarktes von islamistischen Terroristen ermordet wurden. Zum Schluss also: Sprengstoffknall, Dunkel, herabfallende Manuskriptbögen - die Kunst geht zu Boden, seit der Terror Musicaltheater, Kinos, Tanzpaläste betreten hat. Literatur als Eingeständnis, dass die Geschichten, die zu erzählen sind, uns die Worte nicht mehr abnehmen. Weil alle Kraft an Übertreibung nicht ausreicht, um Wirklichkeit noch zu hintertreiben?

Der Raum ist eng. Nennt sich »Labor«. Rundumleuchten, Warnsirenen. Utensilienfülle. Ein Handballtor, eine Kreidetafel, ein DJ-Pult, eine Art OP-Tisch. Jelineks Text kann Stunden füllen, Sichrovsky und seine Mannschaft entschieden sich für heftige Streichungen. Etwa hundert Minuten: zwölf Kapitel, zwölf Versuchsanordnungen, um den Phänomenen von Religion und Radikalität, Angst und Ausgrenzung, Ressentiments und Rassismus auf die Spur zu kommen. Eine Spur, die nur immer Fragezeichen bildet: Wer soll diese Welt verstehen, die verängstigt und verwüstet wird? Und zwar vom Giftgeist der Antwortgeber: Ich weiß, was richtig ist; ich weiß, wer Schuld hat; ich weiß, was zu tun ist. So? Terror will Tugend sein, Tugend muss Terror werden. »Ich möchte nicht in der Haut der Mörder stecken, aber auch nicht in unserer.«

Theater des Zwiespalts: Ich bin, der ich bin - und immer auch der, der aus mir werden kann, wenn ... Im Raum auch zwei uniformierte Schaufensterpuppen, eine mit blinkendem Heiligenschein. Gespenstische Mitspieler. Der maschinelle Mensch von morgen? Total synchronisiert mit seiner bloßen Funktionalität? Manchmal geraten die Schauspieler ins unkontrollierte Zucken. Nachricht von unterwegs: Wir sind auf gutem Weg in besagte Zukunft.

Predigten, Parolenprasselei, Politikfloskeln. Sechs Schauspieler beim furiosen Geredeturnen. Väter und Söhne, geifernde Götter und ebensolche Geliebte, patriarchale und familiale Strukturen, Karikaturen und Kriegsgedröhn. Ein jedes ist verklebt mit jedem: Grausen und Lächerlichkeit, Galle und Groteske. Die Zuschauer inmitten, auf Styroporwürfeln und Plastestühlen. Nähe, Enge. Augenhöhe ist hier Fallhöhe: Du wirst angesprochen, angemacht, angefeindet, anverwandelt. Bist zuschauend Günstling und Geisel. Rein in die Wärme der Opferrolle und raus in den brüllenden Frost der Mörder - die ebenso das Recht auf einen Mythos einfordern wie die Gutmenschengemeinde.

Niels Liebscher jagt über ein Trainingskleinfeld für Gotteskrieger, mit Waterboarding-Einlage, Ohrfeigen zur Wiedererweckung und mechanischem »Inch-allah«-Aufputschgebrüll. Thorsten Köhler mutiert zu einer Godzilla- Abart, die kotzgrölend die Szene zertobt und Papierflieger aus der Luft wischt. So spielt die Inszenierung bevorzugt mit den Jelinek-Stellen, die dem Zivilvolkskörper die vorzivile Innerei wie einen Blinddarm herausreißt oder wie ein Blindhirn. Das Denkzentrum der Horde. Von der Horde zu Heidegger: Zum Seins-Kauderwelsch Kleiderwechsel. Seppeljacke und Gamshut und ein Plattler zur Philosophenprosa: »Wir heideggern euch klein!« Das Wort von der AfD fällt. Fällt wie ein Kotzbrocken.

Das Werk dieser Elfriede Jelinek, so Heiner Müller, kommt aus dem Jahrtausend der befreiten Frau, das noch nicht anbrach. Jelinek ist frei. Freiheit ist, wenn man anderen sagt, was sie nicht hören wollen. Böse offene, offen böse Fantasien wider Verdrängung und Verklemmung. Litaneien aus dem Deportationszug, der die Ohnmächtigen und Schwachen der »Weltgemeinschaft« in immer neue Dreckwinkel und Druckkammern verschleppt. Wie viele Arten von Demütigung gibt es, um einen Menschen zu entmenschen?

Jelinek, das ist Sprachtrieb. Ist Vortrieb wie im Berg. Das bohrt sich durch. Das sind Text-Rollfelder, auf denen die Gedanken hochjagen, im eigenen Treibstoff explodieren; schrille kleine Hassmaschinen. Oliver Baesler als beseelt getrimmtes Babyface im IS-Camp, dann als betäubungsberauschter DJ, dem Boris Stark an der E-Gitarre Grelle und Groove zuliefert. Sarah Zaharanski in intensiver Verständnissuche beim Publikum, Eva Marianne Berger zwischen lächelnder Romantik und Verlängerung ausgebreiteter Partnerpsychosen ins verfremdende Schwyzerdeutsch.

Auftritt Uncle Sam, er malträtiert einen Menschen wie einen Labor-Affen. Zack, Schläge! Dazu ein Lachen aus dem Off, bekannt von TV-Show-Einspielungen. Da ist es, unser pornographisches Gemüt: sich an Seelenfolterstellen wie ein Lachsack zu verhalten. »Jeder Mensch besiegt jeden Gott, der nicht seiner ist!« Sagt der Text. Wie schafft man sich einen Gott? Einer wird auf die Bahre gelegt, weiß eingegipst (Zuschauer dürfen mithelfen), am Ende trägt er ein Horn auf der Stirn (sieht aus wie eine bittende Hand), hat leere schwarze, farbtränende Augen, wird wie Ödipus im Kreise geführt. Als sei Gott die Blindheit, mit der wir uns selber schlagen: Alles nur Gips, was wir da anbeten, und zerschlagen wir irgendwann den falschen Marmor, so wahrscheinlich nur, um auch nur wieder zu knien, diesmal vor den Scherben.

Die energietolle Truppe offenbart brachial, behutsam, behend, befeuert und belustigt ihre Lust. Und zwar an einer fordernden Wahrheit: Jedes Jelinek-Stück ist eine Theatervernichtung. Man darf diese Autorin nicht lieben, man muss den Kampf aufnehmen. Fieber gegen Fieber. Wer wirft den anderen in den tieferen Abgrund? So wie die Jelinek keine Provokateurin gegen andere ist, sondern schreibend immer wieder zur Selbstabtöterin wird, so kann das Theater die Jelinek nur aufführen, wenn es sich selbst zur Strecke bringt, sich allem versagt, was landläufig, gewohnt, konsumierbar geworden ist. Bravo!

NACHTKRITIK.DE  3.12.2016
von Andreas Thamm

Nicht der Gewalt erliegen

Das Wort "Versuch" ist wichtig an diesem Abend in Coburg, als Zustiegshilfe in das Stück, in diese Inszenierung. "Wut" ist unterteilt in zehn Versuche. Nummer eins: "Messe der Experten". Nummer zwei: "Orientierung. Zehn: "Heimatliebe". Die Bühne der Coburger Reithalle ist keine Bühne, auf der etwas vorgeführt, sondern ein "Labor", in dem etwas angerührt wird.

Installation

Das Publikum betritt diese begehbare Rauminstallation, jeder sucht sich selbst seinen Platz irgendwo zwischen Fußballtor, Waschbecken und DJ-Pult und setzt sich auf einen Styropor-Kubus. Ein Gutteil muss stehen bleiben. Die sechs Schauspieler bespielen diesen Parcours sowie das Publikum, direkt, unmittelbar. Die Kostüme sind absurd-schreckliche, bunte, falsche Collagen. Das ganze Bühnenbild steht manifest für unsere chaotische Welt post-2015.

Elfriede Jelinek schrieb "Wut" unterm Eindruck des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Sie hat den Theatern einen ihrer Textmonolithe hingeknallt, auf dass sich die Regisseure dran abarbeiten. Nicolas Stemann hat "Wut" in München uraufgeführt – schlanke vier Stunden hatte seine Inszenierung. Die Coburger Version von Axel Sichrovsky nimmt halb so viel Zeit in Anspruch. Viel, viel Textarbeit war also sicher nötig.

Sich dem Terror annähern

Und trotzdem bleibt die Jelinek überdeutlich präsent; und eben ihr Versuch: Der Text ist ein Netz, der Kontext des Terrors, eine Methode, sich schreibend an die Unbegreiflichkeit der sinnlosen Gewalt anzunähern. Angesichts einer lebhaften Debatte um das politische Theater und der Vielzahl an gelungenen und nicht so gelungenen Stücken, die sich mit dem Islam-bis-AfD-Komplex auseinandersetzen, ist es nach wie vor eine gewaltige und wohltuende Botschaft der Altmeisterin: So macht man das.

Eva Marianne Berger leiht der Autorin selbst zum Ende ihre Stimme: "Wie kann ich mich in diese Leute hineinversetzen? Ich kann es nicht!" Den Autor, der heute noch Antworten hat für die Welt, kann es nicht –, den, der die Fragen stellt, muss es vielleicht geben. Das ist nicht neu, klar, lässt sich aber auch nicht ändern.

Schau und Pathos

Sichrovskys Inszenierung des undramatischen Dramas erweitert die oft abstrakten, sperrigen Textfelder mit ordentlich Schau und Pathos. Versuch Nummer fünf heißt "Bild dir einen Gott". Nils Liebscher wird dazu aufgebahrt und eingegipst, das Publikum hilft mit. Am Ende trägt er ein Horn auf der Stirn und weiße Bahnen und über den Augen, der Brust. Die E-Gitarre und Streicher sägen, und auf einmal ist alles ganz seltsam ergreifend.

Die sechs Schauspieler haben sich festgebissen in Jelineks Text und liefern intensives, schmerzhaftes Theater. Es ist ebenfalls Liebscher, der sich am Fußballtor entlang hangelt, den Kopf unter Wasser taucht und von Sarah Zaharanski Watschen kassiert; Training für den Dschihad: "Wir lehnen es ab zu weinen!" Sie sind die Terroristen, aber sie sind auch die Zeichner, die ihren eigenen Tod reflektieren und sie sind, immer wieder, sie selbst, die Schauspieler im Labor.

Heidegger-Schuhplattler

Das Heraustreten aus der gebotenen Ernsthaftigkeit ist ein essenzielles Element, um nicht dem Pathos von Gewalt und Sprache zu erliegen. Oliver Baesler, soeben noch junger Rekrut und überzeugt, dass nur sein Gott groß sei, möchte das alles nochmal ganz anders angehen: "Nehmen wir Zeus, damit beleidigen wir niemanden!" Die Kollegen und ein Publikumsmitglied sind angehalten über eine Zeus-Reflektion zu improvisieren, Baesler loopt die Sprachfetzen über einen Beat, bis ein irrsinniger Zeus-Track entstanden ist: "Huaaa!"

Und wo Wut ist und postdramatische Ironie, ist der Weg nicht weit zur popkulturellen Ikone ebendieser Emotion: Nils Liebscher verpackt Thorsten Köhler in einen grünen Ganzkörperanzug und triezt ihn, bis aus einer Labor-Ratte ein Hulk geworden ist, der stühleschmeißend durch die Arena tobt. Papierflieger segeln, es dröhnt aus den Boxen. Dann aber raus aus dem Hulkanzug und rein in den Lodenjanker: "Lederjacke: Deutschland! Fielmann: Deutschland! Give me five, Deutschland!" Auf Comic-Geschmetter folgt Heidegger-Schuhplattler.

Durchatmen. Eine Inszenierung voller Ideen, die den Effekt nicht scheuen, sechs Schauspieler, die sich verausgaben, ein Text auf der Höhe der Zeit, das alles im kleinen Saal im kleinen Coburg. Jelineks "Wut" in der Inszenierung von Axel Sichrovsky wühlt ziemlich tief und wird in dieser Nacht noch viele Hirne beschäftigen. Der Applaus ist entsprechend laut und lang. Fragen gibt es sicher viele, neue Antworten leider nie: "Das Problem ist wie üblich, dass sie niemand liebt.

NEUE PRESSE
von Dieter Ungelenk

Intensiv, unkonvetionell und zuweilen kryptisch: In der Coburger Reithalle kocht Elfriede Jelineks "Wut" hoch


Wir sind mittendrin, sie sind unter uns: Götter und Gotteskrieger, Wutbürger und Patrioten, Populisten, Idealisten, Zweifler, Hetzer, Täter, Opfer. Sich raushalten geht nicht: Die Tribühne ist abgesperrt, das Publikum wird zum teilnehmenden Beobachter, muss sich seinen Platz suchen in diesem hermetischen Bühnenraum, der ausschaut wie Frankensteins Resterampe: Crashtest-Dummies, Rasenmäher, Fussballtor, Schredder, Schiefertafel, Küchenspüle - ein morbides, meist eiskalt ausgeleuchtetes Sperrmüll-Stillleben haben die Ausstatter Michael Graessner und Moritz Nitsche hier arrangiert, und das Personal wirkt ebenso skurril: die Sechs haben offenbar gerade eine Altkleidersammlung geplündert.

Was anmutet wie das Set für ein apokalyptisches No-Budget-Movie entpuppt sich als Versuchsanordnung: Wir befinden uns in einem obskuren Laboratorium, dessen Mitarbeiter sich redlich und beredt bemühen, dem eskalierenden Phänomen Wut auf die Spur zu kommen, dem Fanatismus, dem Terror. Um die Sache zusätzlich zu erschweren, bedienen sie sich dabei eines Textes von Elfriede Jelinek: "Wut" ist kein Stück, sondern ein Sprachschwall, den sperrig zu nennen die Höflichkeit gegenüber einer Literatur-Nobelpreisträgerin gebietet.

Weder Rollen noch Handlung gibt die postdramatische Textfläche vor, mit der die österreichische Autorin ihrem Entsetzen und ihrer Wut nach den Pariser Anschlägen auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo" und einem jüdischen Supermarkt 2015 in Worte fasste.
Ein halbes Jahr nach der Uraufführung an den Münchner Kammerspielen hat nun der österreichische Regisseur Axel Sichrovsky sich der Herausforderung in Coburg gestellt und mit seinem jungen Schauspielerteam eine spielbare Fassung des komplexen Werks entwickelt, die schon des unkonventionellen Theatererlebnisses und der darstellerischen Intensität wegen den Besuch in der Reithalle lohnt. Auch wenn manches kryptisch bleibt.

Eva Marianne Berger, Sarah Zaharanski, Oliver Baesler, Thorsten Köhler, Nils Liebscher und Boris Stark bieten zwei Stunden Powerplay, sie ziehen alle darstellerischen Register von der expressiven Choreografie (von Mark McClain einstudiert) bis zum ironischen Heidegger-Schuhplattler, vom Pseudo-Impro-Theater bis zur zeremoniellen Performance, in der Liebscher unter Publikumsbeteiligung zum Gips-Gott erstarrt. Suaden, Sprechchöre, Kakophonien kanalisieren die wortgewaltige Analyse, die kopf- und bauchgesteuert daherkommt, ihr Thema philosophisch und psychologisch, rational und sinnlich, emphatisch und polemisch zu fassen versucht.

 Es geht um Ursachen des Fanatismus ("Das Problem ist wie üblich, dass sie niemand liebt"), um seinen Nährboden, seine Mechanismen, seine Spielarten: Thorsten Köhlers "Monsternummer", in der ein systematisch Gedemütigter ausrastet und schließlich unter den Klängen des Deutschlandlieds seinen pathetischen Nationalismus förmlich herauskotzt, ist ein tragikomischer Höhepunkt des Abends. Die Hybris, die wahnhaften Erlöserfantasien und die religiöse Verblendung angehender Attentäter verkündet Sarah Zaharanski mit beschwörender Euphorie, während Nils Liebscher sich mit vollem Körpereinsatz durch die Grundausbildung zum Märtyrer kämpft. Und just, als der dramatische Gipfel erreicht scheint, holt Oliver Baesler das Ganze zurück auf den Boden der Spaßgesellschaft - er ist obendrein der Mann fürs Multimediale, der hinter seinem DJ-Pult die imposante Soundkulisse für das spektakel baut, bis hin zur Techno-Nummer mit Live-Samples. Boris Stark steuert als soufflierender Roboter swingende Gitarrensounds bei und Eva Marianne Berger schlüpft letzlich in die Rolle und die Sprengstoffweste Elfriede Jelineks, die ihre Ohnmacht bekennt gegenüber Mesnchen, bei denen ihr künstlerisches Einfühlungsvermögen versagt. Das Ende kann denn auch als Kapitulation der Kunst vor der Gewalt gelesen werden: Das Stück geht in die Luft.

NEUE PRESSE Feuilleton
von Carolin Herrmann


Ein starkes Stück Theater: Elfriede Jelineks "Wut" in der einfallsreichen Inszenierung von Axel Sichrovsky in der Reithalle.


Ja. Nein. Janeindoch. Was soll ich sagen? Oder hören und sehen? - Es herrscht "Wut" in der Reithalle, Elfriede Jelineks "Wut", ihr neues "Stück", ein postdramtisches, wie die verzweifelten Einordner versuchen, der assoziativen Wortflut Herr zu werden. Postdramatisch heißt, man kann es nicht einfach so inszenieren.

Gastregisseur Axel Sichrovsy hat den vieldimensionalen Text, der die Fähigkeit zum mutigen Assoziieren voraussetzt, seine Darsteller und das Publikum in ein Labor gesteckt, wo die unterschiedlichen Textteile in zehn Versuchsanordnungen dann doch auf eine einigermaßen dramatische Bahn geschickt werden. Was denn auch sonst. Das ist spannend, oft skurril, sehr einfallsreich, auch vorsichtig witzig trotz des mörderischen Schreckens unserer Terror-Zeit.

Grob zusammengefasst geht es Jelinek – oder zumindest dem Coburger Gedankenfaden nach, den Sichrovsy sehr geschickt aus Jelineks Wortgeflechten heraus gezupft hat – um den Versuch, sich jener „Wut“ zu nähern, die Menschen dazu bringt, eines Gottes wegen massenweise andere Menschen zu eben dem ihren zu schicken. Jelinek hat den Text nach den islamistischen Terroranschlägen von Paris Anfang 2015 geschrieben.

Den toten Zeichnern des Satiremagazins Charlie Hebdo gilt eine Passage. Die Spötter müssen zuerst sterben, weil Spott einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr zurückgenommen werden kann und wirkt, sagen die Inhaber der einzigen Wahrheit. Und einige Male kündigen Enschlossene, die den größten Gott überhaupt besitzen, an, in einen Supermarkt zu gehen, um Juden zu töten.

Das Labor, in das Michael Graessner und Moritz Nitsche sehr aufwendig die Reithalle verdreht haben, lässt niemandem ein Ruhebänklein. Keine Sorge, die Zuschauer müssen keine blöden Dinge tun; nur weichen müssen sie das eine oder andere Mal den theatralen Untersuchungen. Auch so sind sie mittendrin und mitgenommen.

Zugelassen sind ohnehin nur 60, mehr passen nicht zwischen den Seziertisch mit erschreckenden Menschenresten aus Pappmaché, zwischen Maschinen, Kompressor, kalten Lichtern, Körpertestvorrichtungen und Synthesizer. Von dem aus steuert Oliver Baesler den einnehmenden Klangraum, denn folgerichtig werden Jelineks Texte auch zu klanglichen Mustern in klangatmosphärischen Räumen, vom quersprecherischen Durcheinander in chorische Wucht.

Vom Archaischen bis heute
Und die Darsteller fallen mehrmals aus den gewohnten Bewegungsmustern in losgelöste tänzerische Gesten.

Nochmal, keine Angst: Versuchsleiter Axel Sichrovsky und das wild entschlossene Laborpersonal, Eva Marianne Berger, Sarah Zaharanski, Oliver Baesler, Thorsten Köhler, Nils Liebscher und Boris Stark, haben sich niederdonnernder Epochaldüsternis verweigert.

Es ist ein satirischer Blick, aus dem heraus sie die zehn Stationen des breit angelegten (Sprach-)Versuches verfolgen, von der archaischen Perrspektive, in der Götter gegeneinander geraten, Menschen das Maß verlieren, das nie genommen wurde, zumindest nicht gemeinschaftlich für alle, zur „Zurüstung“ des einzelnen, der willig nach der schlichten Gemeinschaft greift, zur Konstruktion eines Gottes, der absolut gesetzt werden muss, zur Radikalisierung der konstruierten, eigenen Weltsicht, zur psychologischen Rückfrage nach der Selbstachtung, zur Seinsfrage an sich, wo sie uns – mittlerweile auch im Paralleluniversum des Neonazistischen angelangt – uns an die Wand heideggern, bis zur Einsichtsverweigerung: Wie kann ich mich in diese Leute hineinversetzen? Ich kann es nicht, ich tue es nicht. Den Sprengstoffgürtel übergibt die Terroristin am Ende einer Zuschauerin.

Jelinek lesen
Zwei Mal regnen Blätter mit Jelinek-Texten aus dem schwarzen Bühnenhimmel und zugegeben: Darauf lesen wir starke Wortgebilde und Gedankenfolgen, die sich womöglich lesend besser erschließen als so aufwendig bühnenhaft zelebriert. Aber alles in allem ist diese Bühnen- Wut des Landestheaters Coburg ein ganz starkes Stück Theater.

Davon abgesehen, die gesellschaftspolitisch engagierte, sprachmächtige Nobelpreisträgerin selbst zu lesen, jetzt erst recht selbst zu lesen – was hindert uns?

Axel Sichrovsky
axel.sichrovsky@gmail.com